Die Macht der Erwartung – wie lässt sich der Placebo-Effekt nutzen?
Placebo-Effekte entscheiden über den Erfolg einer Behandlung mit
Als ein Patient in ein Krankenhaus in Boston (USA) eingeliefert wurde, nachdem er aus Verzweiflung 29 Tabletten eines Antidepressivums geschluckt hatte, stellte sich heraus, dass er gerade an einer Medikamenten-Studie teilnahm. Obwohl er eindeutige Zeichen eines Kreislauf-Kollaps zeigte – er war blass, kaltschweißig, seine Pulsfrequenz lag bei 110 pro Minute und sein Blutdruck bei 80 zu 40 mmHg – ergab die Nachfrage beim Studienzentrum, dass der Mann nur Placebos geschluckt hatte. Trotzdem hatte sein Körper so reagiert, wie man es bei einer Überdosierung von Antidepressiva erwarten kann. Der Mann hatte sich seinen schlechten körperlichen Zustand nicht eingebildet, er hatte ihn jedoch durch seine Erwartungshaltung beeinflusst. Nachdem er erfuhr, dass er nur Placebos geschluckt hatte, ging es ihm körperlich schlagartig besser.
Diese Geschichte erzählte die Neurologin und Neurowissenschaftlerin Ulrike Bingel im Gespräch mit der Ärzte Zeitung. Bingel leitet den Sonderforschungsbereich „Treatment Expectation“ am Universitätsklinikum Essen. Sie sagt: „Es gibt mittlerweile genügend Evidenz, um sagen zu können: Wir sollten diese Effekte ganz dringend in unserem Alltag nutzen“. Dafür brauche es aber keine Placebo-Tabletten, so Bingel. Vielmehr ginge es darum, etablierte und spezifische Therapien so zu gestalten, dass die Erwartungshaltung der Patientinnen systematisch gesteuert werden kann.
In vielen Placebo-kontrollierten Studien hat sich der Effekt, den Erwartungen haben können, bereits bestätigt: Die Wirkung bei Gabe von Placebo plus Wirkstoff summiert sich. Vielleicht potenziert sie sich sogar. Es spielt also eine große Rolle für den Behandlungserfolg, ob Patientinnen einen positiven Effekt erwarten oder nicht. Es kann demnach auch schädlich für die Behandlung sein, wenn negative Effekte erwartet werden – das ist der sogenannte Nocebo-Effekt. Der Behandlungseffekt kann sich sogar dann reduzieren, wenn ein Patient nicht weiß, warum er ein Medikament überhaupt einnimmt oder wenn er über seine Grunderkrankung und die Wirkweise der Behandlung nicht gut aufgeklärt ist. Das heißt, wenn er nicht versteht, warum sich der Aufwand, den eine Behandlung mit sich bringt, für ihn lohnt.
Vielfältige Faktoren prägen die Erwartungen von Patientinnen: Vorerfahrungen mit Medikamenten und dem Behandlungsteam haben einen starken Einfluss, aber auch Medien und die Erfahrungen aus dem Freundes- oder Verwandtenkreis. Soziale Faktoren können den Therapieerfolg genauso stark beeinflussen wie selbst gemachte Erfahrungen.
Placebo-Effekte sind keine psychologischen Phänomene
Ulrike Bingel sagt: „Placebo-Effekte beruhen auf komplexen neurobiologischen Mechanismen.“ Bei der Schmerzbehandlung sei das am besten erforscht. So könne man mit funktioneller Magnetresonanztomografie sehen, dass bereits das Auftragen eines vermeintlichen Schmerzmittels auf die Haut – in Wirklichkeit ein einfaches Sonografie-Gel – Effekte im korrespondierenden Hinterhorn des Rückenmarks habe. Bingel ist überzeugt, dass z. B. chronische Rückenschmerzen viel weniger mit der Wirbelsäule direkt als mit dem Nervensystem und der emotional-kognitiven Situation des Patienten zu tun haben.
Placebo-Effekte seien bei allen körperlichen Systemen bereits beschrieben worden. So lassen sich beispielsweise auch bei der Behandlung von Parkinson durch Placebos neuronale Aktivitätsraten im extrapyramidalen Abschnitt des Gehirns steigern. Und das Immunsystem lässt sich durch die Gabe von Placebos herunterregeln.
Kommunikation hat einen großen Effekt auf die Erwartungshaltung von Patienten
Um den Placebo-Effekt systematisch zu nutzen, müssen Patienten nicht in die Irre geführt werden. Placebos wirken auch dann, wenn die Patientinnen wissen, dass es sich um solche handelt. Für den Placebo-Effekt braucht es noch nicht einmal Placebos. Doch wie lassen sich diese Erkenntnisse ethisch und juristisch sauber im klinischen Alltag nutzen?
Ulrike Bingel sagt: „Erwartungen sind dynamische Konstrukte und wir können darauf einwirken.“ Die Aussage „Wir probieren mal Medikament xy“ vermittelt wenig Hoffnung. Noch schädlicher sind Ausrufe dieser Art: „Ihre Wirbelsäule ist ja ein Trümmerfeld!“. Bei solchen Botschaften schlägt der Nocebo-Effekt zu: Ängste und Befürchtungen können dazu beitragen, dass sich keine Besserung einstellt.
Die emphatische Kommunikation sei hingegen ein wichtiges Instrument, um den Placebo-Effekt zu nutzen, so Bingel. Positive Erwartungen lassen sich dadurch fördern, dass das Behandlungsteam offen, empathisch und verständlich informiert. Es sei günstig, positive Effekte in den Vordergrund zu stellen, bevor man über mögliche unerwünschte Effekte der Behandlung spricht. Hoffnung zu vermitteln sei wichtig, aber genauso wichtig sei es, unrealistische Erwartungen zu vermeiden. Patienten ernst zu nehmen und auf ihre Bedürfnisse einzugehen gehöre ebenfalls zu einer empathischen Kommunikation.
Daneben ließen sich Lernmechanismen nutzen, indem man z. B. Medikamente mit positiven Gefühlen koppelt, etwa mit sensorischen Qualitäten wie angenehmem Geruch oder gutem Geschmack oder indem man sie mit Entspannungstechniken kombiniert, z. B. im Rahmen einer Schmerztherapie. Nicht zuletzt müssten Begleiterkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen mitbehandelt werden, da sie Placebo-Effekten im Weg stehen können.